Rede von Birgitta Jónsdóttir: Wir, das Volk, das System

Von Spitzenpolitikerin Birgitta Jónsdóttir, TEDx Reykjavík, Jänner 2015, via Facebook, Illustrationen von ebendort

Übersetzung aus dem Englischen: Golemxiv

Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der gewöhnlichen Leute, dein Jahrhundert und mein Jahrhundert — unser Jahrhundert.

Bemerkenswerte Umbrüche geschehen. Wir haben die Bibliothek von Alexandria am kleinen Finger; die ganze Welt und all ihr Wissen ist digital und wandert ins Internet.

Während wir in ein neues Zeitalter der elektronischen Gewebe und Beziehungen marschieren sind unsere demokratischen Muster hohl geworden und bröckeln in schauriger Geschwindigkeit.

Die Politik, die Medien, das Geldsystem, die Bildung, die Konzerne und überhaupt alle bekannten Gefüge entfernen sich von den wankenden alten Denkschulen. JETZT gibt es die Gelegenheiten um uns an allen Fronten durchzusetzen.

Unsere Staaten sind auf morsche Fundamente gebaut, für simplere und ruhigere Zeiten und für kleinere Gesellschaften. Diese Gebilde dienen nicht mehr dem Menschen sondern nur mehr sich selbst.

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Der Wohlfahrtsstaat ist ausgehöhlt und steht am Rande des Zusammenbruchs, mit dem Ziel ihn zu privatisieren. Uns geht der Vorrat an Planet aus. Unsere momentanen Systeme sind hilflos.

Aus den meisten Demokratien sind Tyranneien geworden, mit 100 Quatschköpfen am Hals eines Firmenkörperschaftsungeheuers.

„Terrorismus“ wird schwer bestraft, Verheimlichung ist im Staatssicherheitsstaat die Regel geworden. Moderne Demokratien sind ein Bastard aus „Schöne neue Welt“ und „1984“.

Das bringt uns zur digital persona, die eigenen Inhalte und Metadaten. Versteht ihr Metadaten und Vorratsdatenspeicherung? Habt ihr davon ein tiefgehendes Verständnis? So wie ihr euer Recht auf geheime Wahlen versteht? So wie ihr das Anwaltsgeheimnis versteht, oder das Arztgeheimnis? Oder der besondere Schutz der Gewährsleute eines Journalisten?

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Vorratsdatenspeicherung von Metadaten heißt grundsätzlich: Ihr seid splitternackt im System unterwegs. Eure digital persona ist vollkommen offen für jeden mit genug Macht und Geld — für Spott, für den Weiterverkauf, für Verarbeitung und Konsum. Eine digital persona ist ein digitaler Schatten, und er folgt euch wohin ihr geht und kann gekapert werden, kann verändert werden, kann verkauft werden, was bei euren Offline-Personae nicht möglich ist.

Wer Fenster hat statt Wänden, sollte die Vorhänge vorziehen bei Intimitäten wie Schlaf, Sex oder Klosett. Ja oder nein? Oder vielleicht? In eurem digitalen Zuhause hat keiner die Wahl. Verschlüsselung und Gesetze sind der Schlüssel zum eigenen Vorhang, für die Fälle, wenn ein solcher erwünscht ist.

Wir waren noch nie so vernetzt wie heute, so in der Lage in Echtzeit unsere Geschichten zu mitzuteilen, ob Erfolg oder Misserfolg. Daher ist unsere Lernkurve steiler als jemals zuvor. Wir teilen, wir kopieren, wir mixen und wir sind jeden Tag kreativ miteinander.

Jeden Tag redet man uns ein, dass wir hilflos sind, dass nichts diese Systeme verändern kann, ich aber sage euch: es ist gelogen.

Ihr habt die Macht, ein Katalysator für Fortschritt in unserer Welt zu sein. Es waren immer Individuen, die die Welt verändert haben, nie eine externe Macht — im Guten wie im Bösen. Wollt ihr, dass Fremde die Macht in eurem Leben sind oder wollt ihr die Verantwortung für diese Macht übernehmen? Um zum Teil einer gemeinsam schöpferischen Gesellschaft zu sein?

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Dieser Sinn für soziale Verantwortung war irgendwie immer Teil meiner Persönlichkeit, vielleicht weil ich als Kind eine Außenseiterin war, ein seltsames hässliches Entlein in meinem Dorf; ich passte nirgends dazu. Ich hatte Glück: ich lernte sehr früh, mein persönlicher Alchemist zu sein um Schwierigkeiten in Stärke zu verwandeln. Ich habe eingesehen, dass ich ein Versuchskaninchen für Systemversagen bin.

Es war menschliches Versagen, dass zum Beispiel zum Selbstmord meines Vaters und meines Mannes führte, die beide in den Abgrund der isländischen Landschaft aus Wasser und Eis verschwanden. Das System behandelte dies als Systemfehler.

Ich entschloss mich, diese Krisen als Mittel der Veränderung zu verwenden. Durch den Tod meines Vaters, der am Weihnachtsabend 1987 für immer verschwunden ist, kurz nach meinem zwanzigsten Geburtstag, durch den Tod meines Vaters lernte ich das Leben schätzen und mich nicht davor zu fürchten, dass ich nicht weiß was als nächstes kommt. Diese Haltung hat mir in Zeiten der Krise gut gedient, seien es interne oder externe Krisen.

Später lernte ich, dass unsere kollektives Systeme in Zeiten der Krise die menschliche Natur zum Vorschein bringen. Wir haben unsere Systeme nach den Werten des Menschen geschaffen, daher können wir sie auch erledigen.

Was im Moment unmöglich scheint kann schon morgen sehr gut möglich sein, denn wir erleben an allen Fronten sehr rasche Veränderungen. Daher ermuntere ich euch alle, einen Plan für die Konstruktion der Zukunft zu zeichnen, in der ihr leben wollt. Findet den Funken, der die Revolution in euren Herzen beginnt.

Habt ihr jemals darüber nachgedacht woher das Wort „Revolution“ herkommt? Ich mag dieses Wort sehr, denn es bedeutet „Veränderung“, eine Entwicklung mit Liebe. Wie awesome ist das? Warum fürchtet ihr euch vor Veränderung, warum fürchten wir alle uns so sehr davor? In der Natur ändert sich ständig alles, aber dennoch tun wir alles, was in unserer Macht steht, um die Zeit anzhalten. Warum fürchtet ihr euch? Warum fürchten wir uns?

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Vielleicht liegt es daran, dass wir alles so kompliziert und grandios gemacht haben. Vielleicht ist es Zeit sich auf das Einfache zu besinnen, für das Nachhaltige und Genügsame. Wir können das erreichen indem wir voneinander lernen, indem wir einander helfen – lokal und global – und indem wir uns daran erinnern, dass wir als Indivduen die Welt verändern können. Es ist Zeit nach vorne zu schreiten, Zeit, diese Herausforderung anzunehmen und selbst zum Veränderer zu werden. Wartet nicht, dass andere kommen, denn jetzt ist eure Zeit gekommen. Um etwas zu bewirken!

I habe diesen Schritt vor einigen Jahren gewagt, als ich vorübergehend arbeitslos war, alleinerziehende Mutter mit einem schlichten Ziel: Ich als Individuum kann helfen, eine nachhaltige Zukunft für die nächsten Generationen zu schaffen, und das in unsicheren Zeiten nach einer Finanzkrise.

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Ich muss zugeben, dass ich nie davon geträumt habe, eine Anführerin zu sein, eine Politikerin, eine Parlamentarierin, eine Ministerin, gar nicht zu reden von Ministerpräsidentin. Meine kleine Piratenpartei ist im Augenblick in den Umfragen die bei weitem größte Partei in Island. Wir sind alle überwältigt und offen gesagt auch sehr überrascht. Bei Überraschungen ist es gut mich an die Reichweite der Macht zu erinnern, von der ich ein großer Fan bin. Ich habe die Machtstruktur der Piratenpartei mitgeschaffen, und ihre Reichweite schließt eine Gemeinde ein.

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Ich habe ein Gelübde abgelegt: solange ich im öffentlichen Dienst stehe, solange muss ich mich daran erinnern auf mein Herz zu hören, auf meine Intitution zu hören, und machen, dass mein Ehrenwort etwas gilt. Und schließlich darf es mich gar nicht kümmern, wenn ich die Machtposition verliere, weil sie ja gar nicht meine war.

Im Vorstellungsgespräch mit der ganzen Nation, im Wahlkampf, versprach ich, die lästige Mücke im Zelt zu sein. Das, meine Freunde, ist ein Versprechen, das ich gehalten habe. Ihr könnt meine Mit-Parlamentarier fragen.

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Meine Hauptziele in der Politik, und meine Vision, nahmen in einem Basis-Think-Tank Gestalt an, dem ich mich kurz nach dem finanziellen Zusammenbruch im Jahr 2008 anschloss, während der Arbeit an der IMMI Resolution. Diese Ziele sind glücklicherweise im Herzen der Parteipolitik der Piraten angelangt.

Erstes Ziel: Die Öffentlichkeit an der Gestaltung von Islands Gesetzen zu beteiligen, und zwar durch direkte Demokratie und durch Mitarbeit an der neuen Verfassung für das und durch das Volk von Island. Mir war bewusst, dass wir eine neue Verfassung brauchen. Eine neue Hardware, wie ich das gerne nenne, um darauf ein unverbrauchtes System aufzusetzen.

Zweites Ziel: Island wird ein sicherer Hafen für die Freiheit der Information, freie Rede und Transparenz, mit einem Schwerpunkt bei digitaler Intimsphäre als Grundpfeiler der direkten Demokratie. Um ein hochmodernes Rechtssystem für das 21. Jahrhundert zu schaffen.

Ich denke, dass man sagen kann: ich bin die richtige für Partei-Startups, denn ich habe mit anderen in den letzten sechseinhalb Jahren zwei Parteien aus dem Nichts erschaffen, und dabei waren einige wirklich erstaunliche Menschen. Beide Parteien wurden ins Parlament gewählt. Als ich vor sechs Jahren gewählt wurde, war ich im System, im Herzen des Systems, in der gesetzgebenden Versammlung, ganz so wie ein Gesetzes-Hacker bei der Arbeit an der Analyse der Stärken und Schwächen um Verbesserungen zu finden.

Ich lernte schnell mich auf meine Intuition als Dichterin zu verlassen, denn das ist für mich sinnvoller als die Rivalität und die Manipuliationen der rechten und linken Ideologien. Die Frage der richtigen und falschen Ideologie ist einfach nicht mehr zeitgemäß. Wir brauchen keine starken Parlamente mehr, die zwischen der Öffentlichkeit und den Entscheidern vermitteln — vielleicht haben wir sie nie gebraucht. Wir haben so genannte „Profi-Politiker“, die allerdings der Realität weit entrückt sind, in der die meisten von uns leben.

Die meisten Leute haben erkannt, dass links und rechts in der Politik keine nützliche Rolle mehr spielen. Ideologie ist überholt. Um politische Bewegungen in Gang zu setzen, die auf der Grundlage einer gemeinsamen Agenda der dringenden Anliegen ruht, Anliegen der Grundrechte des Menschen und Anliegen der demokratischen Reform, die jetzt so wichtig geworden sind.

Um den gewöhnlichen Leuten wie uns eine Gesellschaft für uns zu schaffen, müssen wir alle die demokratischen Mittel haben. Die Menschen müssen in die Parlamente um die Gesetze zu ändern, auf dass wir alle die Macht haben, die uns gesetzlich zusteht. Um auf unsere Gesellschaft Einfluss zu nehmen. Um wirklichen Druck auf jene auszuüben, die für uns, in unserem Namen die Macht ausüben, nicht für die Elite.

Eines unserer Vorhaben für sowohl die Bürgerrechtsbewegung als auch die Piratenpartei war und ist es, die einfachen Leute zu mobiliseren, auf dass sie mit Verantwortungsbewusstsein vorangehen um den Sprung ins Ungewisse zu wagen, denn um die Mücke im Zelt zu sein muss man die Fenster öffnen.

Beim Blick auf die verschiedenen Modelle zur Humanisierung und Modernisierung der Gesellschaft bin ich zum Schluss gekommen, dass es momentan kein Modell gibt, dass für alles passt, und dass es ein solches auch nie geben wird. Wir brauchen Experimente und Ermittlungen darüber, was funktioniert, und wofür und für welche Kultur.

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Solche Experimente zur Demokratie gibt es bereits, und einige sind erstaunlich in der gelebten Praxis rund um die Welt. Neue Formen der Bürgerbeteiligung entstehen gerade und fordern die Politik und fördern die direkte Mitbestimmung. Dazu gehört das Liquid Feedback der Piratenpartei, dazu gehört D-Cent, dazu gehört Your Priorities, dazu gehört DemocracyOS, dazu gehört WeGov.

Technik versetzt uns in die Lage, direkt Macht auszuüben, und die Technik wird jetzt einfach genug um den Bürgern den Start in die Meinungsbildung und politische Veränderung von unten zu geben.

Einer der bedeutendsten Aufgaben ist die Hilfestellung für die Leute, damit ihnen bewusst wird, dass sie Teil der Demokratie sein müssen, wenn sie echte Demokratie wollen. Dass es Arbeit ist in einer Demokratie zu leben.

Wichtig ist auch, dass die Menschen eine Debatte unter ihren Freunden und Familien anfangen, darüber welche Sorte Zukunft sie wollen. Wenn wir, die Bürger der Erde, keine Klare Vorstellung davon haben wo es hingehen soll, werden wir wohl nirgends hingehen. Die 1% haben einen genauen Plan wo es hingehen soll, und nichts anderes ist es was sie uns Gewöhnlichen voraus haben.

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Einige der tollsten Neuerungen und Schöpfungen in der Geschichte der Menschheit haben unter extremen Belastungen begonnen, wie etwa der New Deal. Als menschliche Wesen haben wir ein Stadium erreicht in dem wir die nächste Ebene betreten müssen, wenn wir eine tragfähige Welt für die nächste Generation haben wollen. Bitte sprecht darüber wie eure Zukunft aussehen soll, bildet Vorstellungen, teilt diese Vorstellungen mit, beginnt bei der Person, die neben euch sitzt.

Wer Inspiration braucht, findet in John Lennons Imagine gute Pläne.

Die Poetin in mir schließt mit einem Weckruf!

I have seen signs
the end of the world
as we know it
has begun

Don’t panic
it might look terrifying
on the surface

Yet inside every
human being
a choice
to be a catalyst

Earth is calling
Sky is calling
Science is calling
Creation is calling:

Wake up, wake up now

Transform your heart into
a compassion machine

Now is the time
to yield to the call of growth
to the call of action

You are the change makers

Sleepers of all ages

WAKE UP
wake up: NOW