Wie „Nichts zu verbergen“ zu „Kein Ort, um sich zu verstecken“ führt — Warum in einem Zeitalter des technischen Totalitarismus die Privatsphäre nicht egal ist
von The Daily Bell, 5. Juli 2017
Anmerkung des Autors: Die folgenden Zeilen stammen von einem langjährigen Journalisten, der sich darauf spezialisiert hat, für große Medien und private Unternehmen über Roboter, Big Data und Künstliche Intelligenz (KI) zu schreiben.
Würdest du es zulassen, dass sich ein Regierungsbeamter in deinem Schlafzimmer in den Flitterwochen aufhält? Oder dass deine Schwiegermutter alle Gespräche aufzeichnet, die in deinem Haus oder Auto stattfinden — besonders die Meinungsverschiedenheiten mit deinem Mann oder deiner Frau? Würdest du einen Fremden neben deinem Kind beim Spielen sitzen lassen, damit er es besser verstehen kann, wie er es mit Süßigkeiten oder mit einer Puppe locken kann?
Weißt du was? Wenn du überall hin dein Telefon mitnimmst oder dir einen Robotor fürs ganze Haus zulegst, wie Alexa, Echo, Siri oder Google, dann öffnest du jeden Aspekt deines Lebens für Regierungsbeamte, möglicherweise kriminelle Hacker und Werbetreibende, die es auf einen selbst, auf den Ehepartner und die Kinder abgesehen haben.
Das Folgende ist keine Schmähschrift gegen Technologie. Aber es ist ein Plädoyer dafür sich zu überlegen, was man alles aufgibt, wenn man im großen Stil auf die Privatsphäre pfeift und sie jenen überlässt, die wir nicht sehen oder hören können… Menschen, deren Motive wir nicht ergründen können.
Die verbreiterten Fahrspuren der Kommunikation und die Bequemlichkeiten, die Smart Phones, drahtlose Gemeinden, Big Data und Künstliche Intelligenz (KI) geschaffen haben, sind in der Tat in gewissem Maße nützlich. Sie erlauben es einem zum Beispiel, von zu Hause aus zu arbeiten, was Menschen ermöglicht, mehr Zeit mit ihrer Familie zu verbringen und weniger beim Pendeln. In Bereichen wie der Energiewirtschaft hilft das Feld der Vorhersageanalytik, welches aus Big Data und dem industriellen Internet geboren wurde, das Risiko zu minimieren für Menschen, die auf Bohrinseln geschickt werden.
Und auf einer persönlichen Ebene sind die Annehmlichkeiten natürlich unzählbar: Großeltern, die weit weg wohnen, können ihre Enkelkinder viel öfter „sehen“ als noch in den vergangen Jahren dank Technologien wie Facetime oder Skype.
Die Menschen sparen Geld: Wenn man bei einem Restaurant vorbeigeht, wird plötzlich ein Gutschein für ein Mittagessen auf deinem Telefon angezeigt.
Und sie können auch Zeit sparen: Eines Tages könnte das Internet of Things deiner Kaffeemaschine und deinem Wecker mitteilen, dass sie vor der normalen Zeit aktiviert werden, weil schlechtes Wetter kommt und der Schulbus deines Sohnes 15 Minuten früher kommen wird, um dem Nebel auszuweichen.
Doch es gibt eine logische Schlussfolgerung, über die wir nachdenken müssen. (Eigentlich zwei logische Schlussfolgerungen, die erste sind die langfristigen Auswirkungen von elektromagnetischen Feldern auf die Gesundheit, und da besonders auf unser Gehirn. Doch bis jetzt wurden nur wenige Studien damit beauftragt, dies zu untersuchen.)
Wir müssen einsehen, dass wir all diese Bequemlichkeit auf Kosten unserer Privatsphäre gewinnen.
Wenn du Siri, Echo, Alexa oder Google (oder andere von dieser Sorte) etwas fragst, dann ist es toll, wenn man sofort eine Antwort bekommt… aber die logische Folge ist, dass Siri, Echo, Alexa und Google bei jedem Gespräch, das ihr mit eurer Frau habt, zuhören, bei jedem Streit mit euren Kindern, sowie bei jedem Stöhnen, das im Dunkeln stattfinden könnte.
Diese Antwort gewährt der Suche von Natur aus Legitimität. Die Implikation ist, dass wenn man nichts zu „verbergen“ hat, die Technologie-Unternehmen, die Werbe-Agenturen, die Regierung, etc. tatsächlich vollen Zugriff auf jeden Aspekt unseres Lebens haben sollten.
Beachtet, dass das Wort im Satz „verbergen“ und nicht „schützen“ lautet, was darauf hindeuten soll, dass alles, was mit einer schnüffelnden Partei nicht geteilt wird, etwas Ruchloses sein muss, etwas, das man versucht jenen vorzuenthalten, die eigentlich ein Recht darauf haben.
Und wenn man darüber nachdenkt, ist „nichts“ ebenfalls das falsche Wort: Entschuldige bitte die Vulgarität, aber würdest du vor deiner Schwiegermutter ein Klo benutzen? Würdet ihr einen Finanzbeamten nachts in euer Schlafzimmer lassen? Oder wollt ihr, dass er bei euch einzieht und jede Konversation aufzeichnet, die stattfindet? Würdet ihr euer privates Tagebuch für den Ex eurer Ehepartnerin oder für eure Kinder öffnen? Natürlich gibt es einige Dinge, die wir privat halten möchten.
Mit anderen Worten, wenn es OK ist, die Privatsphäre der eigenen Genitalien oder seiner privaten Gedanken schützen zu wollen, warum sollte es dann falsch sein, wenn man seine Gespräche oder seine Aufenthaltsorte verbergen möchte?
Totalitarismus und Technologie — Ausschluss der Gewährleistung
Die Privatsphäre ist das Erste, was ein totalitärer Staat zu zerstören versucht.
Fragt jeden, der hinter der Berliner Mauer oder im stalinistischen Russland gelebt hat. Wenn man Kenntnis darüber hat, was Eltern ihren Kindern beibringen, kann man intervenieren und die Familie zerstören, ein beliebtes Ziel des Totalitarismus. Wenn man von jemand die Geheimnisse oder Schwächen kennt, kann man ihn manipulieren. Wissen ist wahrlich Macht, besonders dann, wenn man ein großer Staat ist, der seine Bürger manipulieren will.
Als Kind war ich ein großer Fan von Eiskunstlauf, insbesondere von der großartigen, damals noch ostdeutschen Wettkämpferin Katarina Witt. In einem Interview vor ein paar Jahren enthüllte sie ihren Schock darüber, dass die Stasi Tausende Aufzeichnungen über ihr Kommen und Gehen sowie über private Gespräche gesammelt hat. Die Spione haben sogar notiert, wann sie mit ihrem Freund intim geworden ist. Wenn die Regierung alles weiß, ist niemand immun und jeder kann kontrolliert werden.
Doch denkt daran, sie dokumentierten die Aktivitäten und Gespräche von Frau Witt mit der Hand, damals in den 1970ern und 80ern. Heute wird fast jeder Teil unseres Lebens in Echtzeit aufgezeichnet. Jedes E-Mail, jede SMS, jedes Telefongespräch. Jedes Mal, wenn du deinem Telefon erlaubst zu wissen, wo du dich befindest, wird dein Aufenthaltsort festgehalten. Bald wird dieses Internet of Things — IoT — das bereits 50 Milliarden „Dinge“ durch ein eigenes Internet verbindet, auch zu eurem Kühlschrank, euren Geschirrspüler und zu eurer Kaffeemaschine kommen. Werbungen über Happy Alexa und „Smart-Kühlschränke“ von GE werden ausgestrahlt, während du diese Zeilen hier liest.
Und wir lassen das alles nicht nur zu, wir heißen es willkommen. Vor 20 Jahren waren es die Freunde von Frau Witt, die ihre persönlichen Gespräche aufzeichneten und Fremde, die ihr hinterherspionierten. Doch wie sie bemerkt hat, geben wir heute viel von unserer Privatsphäre freiwillig auf. Wenn jemand vor deinem Haus parken und dich Tag und Nacht überwachen würde, dann wäre das ziemlich irritierend, nicht wahr? Doch wir haben kein Problem damit, unser Telefon ständig mit uns zu führen und Facebook persönliche Details über unser Leben preiszugeben.
Wir tun dies aus Gründen der Bequemlichkeit, die im Umfang schnell zunehmen wird, wie es die verschiedenen Überwachungsmechanismen tun. Wird es praktisch sein, wenn euer Kühlschrank eurem Telefon mitteilt, dass der Orangensaft fast leer ist (da auch die Flasche einen Sensor haben würde)? Vielleicht.
Aber wäre es praktisch, wenn der gleiche Kühlschrank eurer Gesundheitsversicherung mitteilt, dass ihr Eiscreme in eurem Gefrierschrank habt? Und deshalb die Raten deiner Gesundheitsversicherung nach oben schnellen?
Oder noch schlimmer — wird es noch praktisch sein, wenn euer Kühlschrank bei euren Küchengesprächen zuhört und der Regierung mitteilt, dass du eine politische Diskussionsgruppe für Dienstag organisierst? Oder wenn er diesem fremden Mann, mit dem ihr einmal ausgegangen seid und der jetzt euer System gehackt hat mitteilt, dass deine Tochter diesen Freitag ein Konzert hat?
Das ist keine Verschwörungstheorie. Dies ist eine Weiterführung dessen was passiert, wenn Menschen, die nach Macht streben, Zugang zu einer riesigen Menge an persönlichen Informationen erhalten.
Je mehr ihr Facebook, oder Siri, oder Google, oder FourSquare, oder eurem Telefon, oder eurer Waschmaschine mitteilt, desto mehr eurer persönlichen Macht und Privatsphäre gebt ihr auf. (Und je mehr Fotos ihr von euren kleinen Kindern postet, desto mehr von deren Macht tretet ihr ab. Also, Eltern — hört auf damit. Sofort.)
Fazit: Wenn der Staat (oder ein Unternehmen) über eure Schwächen Bescheid weiß, kann er sie verwerten. Sie können in vielfältiger Weise hinter euch her sein. Und ich meine nicht nur, um euch zu „bestrafen“… ich meine, um euch zu manipulieren.
Wenn ein Politiker Zugang zu euren persönlichen Neigungen hat, dann kann er leicht mit einer Künstlichen Intelligenz eine gezielte Kampagne entwerfen, die genau das aufbietet, was die Daten sagen, das ihr hören wollt. In der Zukunft könnte er sogar Nachrichten, Videos und sogar Audio-Nachrichten in Echtzeit verzerren, um auf euch einen Reiz auszuüben.
Wenn ein potentieller Arbeitgeber euch für einen Job in Erwägung zieht, dann kann er (jetzt schon) auf jedes YouTube-Video zugreifen, das ihr euch jemals angesehen habt, auf jedes öffentliches Posting, das ihr je geschrieben habt, und bald auch alles andere, was ihr online gestellt habt. In der Zukunft könnte er in der Lage sein, auf alles zugreifen zu können, was ihr jemals in eurem Haus oder Auto gesagt habt, oder auf jedes Video, das von eurem Fernseher von euch aufgenommen wird, wenn ihr denkt, er wäre ausgeschaltet.
Diese Gespräche und Bilder werden als Waren verkauft. „Daten“ = „Geld“ und „Macht“. Firmen werden sich bald darauf konzentrieren, all die persönlichen Daten zusammenzutragen; sie werden dafür bezahlt werden, um „unangemessene“ Gespräche, Texte oder Bilder zu kennzeichnen. Denkt darüber nach.
Ein Privatbankier, mit dem ich in Asien gesprochen habe, ist stolz darauf, dass seine Bank gemeinsam mit FinTech daran arbeitet, ein Kundenbeziehungsmanagementsystem auf Steroiden zu entwickeln: Es wird jede einzige E-Mail, SMS, Foto, Posting und sogar Online-Suche finden, die ihr jemals getätigt habt, damit sie sich (und das klingt so harmlos) „ein ganzheitliches und voraussagendes Bild der Kundenbedürfnisse machen können“.
Dieser voraussagende Teil ist kritisch. Die Daten sagen nicht nur jenen, die sie haben, wo du warst, sondern künstliche Intelligenz und Big Data Analysen können vorhersagen, wo du hingehst (sowohl physisch als auch psychologisch)… und jetzt wird es wirklich beängstigend… noch bevor du es weißt.
Das verleiht den Besitzern der Daten reale Manipulationsmächte. Die Gewinner einer Schlacht sind so gut wie immer diejenigen mit den besseren Informationen, diejenigen, die einen Überraschungsangriff starten können.
Technologie kann zu Bequemlichkeit führen, aber es kann auch zu Machtmissbrauch führen. In seinem Extrem heißt das Totalitarismus.
Am Ende müssen wir Vorkehrungen treffen, wenn wir auch nur annähernd so etwas wie Freiheit behalten wollen. Einige von euch haben zweifellos Jonah Goldbergs exzellentes Buch aus dem Jahr 2007 gelesen, Liberaler Faschismus, wo das Cover einen Smiley mit einem Hitlerbart zeigt. In der Einführung zitiert Herr Goldberg ein Segment aus einer Bill Maher Show, in der George Carlin im Wesentlichen sagt (und ich formuliere das um), dass „wenn der Faschismus nach Amerika kommen würde, er ein Smiley-Gesicht tragen würde.“
Ich würde noch einen Schritt weiter gehen — er würde sich in einem Emoji verhüllen… scheinbar harmlos, freundlich und allgegenwärtig.
Wir müssen damit aufhören, unsere Privatsphäre aufzugeben. Wir müssen damit anfangen, über persönliche „Daten“ als die Ware nachzudenken, die sie tatsächlich ist, und sogar als Waffe, die gegen uns eingesetzt werden kann.
Wenn wir nicht aufhören und überdenken, was wir aufgeben, dann werden wir nicht nur nichts zu verbergen haben, sondern auch keinen Ort mehr, wo wir uns verstecken können.