Erinnerungen an das blutige Jahrhundert des Kommunismus

von Stephen Kotkin (Wall Street Journal), am 3. November 2017

In den 100 Jahren seit Lenins Putsch in Russland hat die Ideologie der Abschaffung der Märkte und des Privateigentums eine lange, mörderische Spur der Zerstörung hinterlassen

Diese Woche vor einem Jahrhundert übernahm der Kommunismus das russische Reich, den damals größten Staat der Welt. Linke Bewegungen verschiedener Art waren in der europäischen Politik lange vor der Revolution vom 25. Oktober 1917 (was im reformierten russischen Kalender zum 7. November wurde) weit verbreitet gewesen, aber Vladimir Lenin und seine Bolschewiki waren anders. Sie vertraten nicht nur fanatische Überzeugungen, sondern waren auch flexibel in ihrer Taktik — und hatten Glück mit ihren Gegnern.

Der Kommunismus ging als eine wilde, aber idealistische Verurteilung des Kapitalismus in die Geschichte ein und versprach eine bessere Welt. Seine Anhänger, wie andere Linke, beschuldigten den Kapitalismus für die miserablen Zustände, unter denen Bauern und Arbeiter gleichermaßen litten, sowie für das Vorherrschen von Zwangs- und Kinderarbeit. Die Kommunisten sahen das Abschlachten im Ersten Weltkrieg als eine direkte Folge des erbitterten Wettbewerbs der Großmächte um die Überseemärkte.

Aber ein Jahrhundert mit Kommunismus an der Macht — mit Stützpunkten sogar auf Kuba, in Nordkorea und China — hat die menschlichen Kosten eines politischen Programms, das auf den Sturz des Kapitalismus gerichtet ist, deutlich gemacht. Immer wieder hat der Versuch, Märkte und Privateigentum zu beseitigen, den Tod einer erstaunlichen Zahl von Menschen gefordert. Seit 1917 — in der Sowjetunion, China, der Mongolei, Osteuropa, Indochina, Afrika, Afghanistan und Teilen Lateinamerikas — hat der Kommunismus laut mühsamen Forschungen von Demographen mindestens 65 Millionen Menschenleben gefordert.

Zu den Zerstörungswerkzeugen des Kommunismus gehören Massendeportationen, Zwangsarbeitslager und Polizeistaatterror — ein Modell, das von Lenin und vor allem seinem Nachfolger Joseph Stalin aufgestellt wurde. Es wurde weitgehend nachgeahmt. Obwohl der Kommunismus viele Menschen vorsätzlich umgebracht hat, sind noch mehr Opfer durch seine grausamen Social Engineering-Projekte verhungert.

Ein kommunaler chinesischer Bauernhof in den 1950er Jahren während des „Großen Sprung nach vorn“

Für diese sagenhaften Verbrechen tragen Lenin und Stalin persönliche Verantwortung, ebenso wie Mao Zedong in China, Pol Pot in Kambodscha, die Kim-Dynastie in Nordkorea und eine beliebige Anzahl kleinerer kommunistischer Tyrannen. Doch wir dürfen nicht die Ideen aus den Augen verlieren, die diese grausamen Männer dazu bewogen haben, in einem solchen Ausmaß zu töten, oder den nationalistischen Kontext, in dem sie diese Ideen übernahmen. Der Antikapitalismus war für sie selbst attraktiv, aber er diente ihnen auch als Instrument, um rückständigen Ländern in die Reihen der Großmächte zu verhelfen.

Die kommunistische Revolution mag jetzt erschöpft sein, aber ihr hundertjähriges Jubiläum sowie die große antikapitalistische Sache verlangen noch immer eine ordnungsgemäße Aufarbeitung.

Im Februar 1917 dankte Zar Nicholas II. auf Druck seiner Generäle, die sich Sorgen machten, dass Brotmärsche und Streiks in der Hauptstadt St. Petersburg die Kriegsanstrengungen gegen Deutschland und seine Verbündeten untergraben würden, ab. Die Februarrevolution, unter diesem Namen wurde das Ereignis bekannt, führte zu einer nicht gewählten provisorischen Regierung, die sich entschied, ohne das gewählte Parlament zu regieren. Die Bauern begannen, das Land zu konfiszieren, und Sowjets (oder politische Räte) begannen sich unter den Soldaten an der Front zu bilden, wie es bereits bei den politischen Gruppen in den Städten der Fall war.

In diesem Herbst unternahmen die Bolschewiki Lenins während des Krieges einen bewaffneten Aufstand, an dem wahrscheinlich nicht mehr als 10.000 Menschen beteiligt waren. Sie richteten ihren Staatsstreich nicht gegen die provisorische Regierung, die schon lange dem Untergang geweiht war, sondern gegen den wichtigsten Sowjet in der Hauptstadt, der von anderen, gemäßigteren Sozialisten beherrscht wurde. Die Oktoberrevolution begann als Putsch der radikalen Linken gegen den Rest der Linken, deren Mitglieder die Bolschewiki wegen Verletzung aller Normen anprangerten und die sich dann aus dem Sowjet zurückzogen.

Die Bolschewiki waren wie viele ihrer Rivalen Anhänger von Karl Marx, der den Klassenkampf als großen Motor der Geschichte sah. Was er Feudalismus nannte, würde dem Kapitalismus weichen, der seinerseits durch den Sozialismus und schließlich durch die ferne Utopie des Kommunismus ersetzt würde. Marx stellte sich eine neue Ära der Freiheit und des Überflusses vor, und ihre Voraussetzung war die Zerstörung der „Lohnsklaverei“ und der Ausbeutung des Kapitalismus. Wie er und sein Kollege Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest von 1848 erklärten, lässt sich unsere Theorie „in einem Satz zusammenfassen: Abschaffung des Privateigentums“.

Als sie Anfang 1918 an der Macht waren, nannten sich die Bolschewiki in die „Kommunistische Partei“ um, da sie versuchten, Russland zum Sozialismus und schließlich zur Endphase der Geschichte zu zwingen. Millionen haben versucht, auf eine neue Art und Weise zu leben. Niemand wusste jedoch genau, wie diese neue Gesellschaft aussehen sollte. „Wir können den Sozialismus nicht charakterisieren“, räumte Lenin im März 1918 ein. „Wie der Sozialismus sein wird, wenn er seine vollendete Form erreicht, wissen wir nicht und können wir auch nicht sagen.“

Aber eines war ihnen klar: Der Sozialismus konnte dem Kapitalismus nicht gleichen. Das Regime würde Privateigentum durch kollektives Eigentum ersetzen, Märkte durch Planungen und „bürgerliche“ Parlamente durch die „Volksmacht“. In der Praxis aber war eine wissenschaftliche Planung nicht durchführbar, wie damals auch einige Kommunisten zugaben. Was die Kollektivierung von Eigentum anbelangt, so wurde dadurch nicht das Volk, sondern der Staat ermächtigt.

Der von den Kommunisten in Gang gesetzte Prozess bedeutete die enorme Ausweitung eines Geheimpolizeiapparats, der die Verhaftung, die interne Deportation und die Hinrichtung von „Klassenfeinden“ handhabte. Die Enteignung von Kapitalisten bereicherte auch eine neue Klasse von Staatsfunktionären, die die Kontrolle über den Reichtum des Landes erlangte. Alle Parteien und Standpunkte außerhalb der offiziellen Doktrin wurden unterdrückt und die Politik als Korrekturmechanismus eliminiert.

Die erklärten Ziele der Revolution von 1917 waren Überfluss und soziale Gerechtigkeit, aber die Verpflichtung, den Kapitalismus zu zerstören, führte zu Strukturen, die es unmöglich machten, diese Ziele zu erreichen.

In städtischen Gebieten konnte das sowjetische Regime auf bewaffnete Fabriksarbeiter, eifrige Rekruten für Partei und Geheimpolizei sowie auf junge Leute zurückgreifen, die ungeduldig waren, eine neue Welt aufzubauen. Auf dem Land jedoch hatten die Bauern — etwa 120 Millionen Menschen — ihre eigene Revolution vollzogen, indem sie den Adel enteignet und den de facto Landbesitz der Bauern begründet hatten.

Unterstützer der Kommunistischen Partei Russlands nahmen am 23. Februar an einem Marsch in Moskau am Tag des Verteidigers des Vaterlandes teil.

Mit dem verwüsteten Land am Rande der Hungersnot zwang Lenin die zögerlichen Parteikader dazu, vorerst die separate Bauernrevolte zu akzeptieren. Auf dem Land wurde entgegen der Einwände der kommunistischen Puristen so etwas wie eine Marktwirtschaft zugelassen.

Mit Lenins Tod im Jahr 1924 wurde dieses Zugeständnis zu Stalins Problem. Nicht mehr als 1% der Ackerfläche des Landes wurde bis 1928 freiwillig kollektiviert. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die wichtigsten Fabriken größtenteils in Staatsbesitz, und das Regime hatte sich zu einem Fünfjahresplan für die Industrialisierung verpflichtet. Die Revolutionäre ärgerten sich, dass die Sowjetunion nun zwei inkompatible Systeme besitze — Sozialismus in der Stadt und Kapitalismus im Dorf.

Stalin hat nicht lange gezögert. Er verhängte Zwangskollektivierungen von der Ostsee bis zum Pazifischen Ozean, selbst angesichts der Massenrebellion der Bauern. Er bedrohte Parteifunktionäre und sagte ihnen, dass wenn sie es mit der Ausrottung des Kapitalismus nicht ernst meinten, sie dazu bereit sein sollen, die Macht an die aufstrebende ländliche Bourgeoisie abzutreten. Er stachelte den Klassenkampf gegen die „Kulaken“ (die besser gestellten Bauern) und jeden anderen an, der sie verteidigte, indem er Quoten für Massenverhaftungen und interne Deportationen auferlegte.

Stalin war sich über seine ideologische Begründung im Klaren. „Könnte man die Landwirtschaft kulakartig entwickeln, als einzelne Bauernhöfe, die neben den Großbetrieben bestehen“ wie in „Amerika und so weiter?“ fragte er. „Nein, das können wir nicht. Wir sind ein sowjetisches Land. Wir wollen eine kollektive Wirtschaft errichten, nicht nur in der Industrie, sondern auch in der Landwirtschaft.“

Und er hat nie einen Rückzieher gemacht, selbst dann nicht, als das Land von 1931 bis 1933 in eine weitere Hungersnot geriet. Zwangskollektivierungen in dieser kurzen Zeit kosteten 5 bis 7 Millionen Menschenleben.

Der schreckliche Präzedenzfall der Sowjetunion hat andere kommunistische Revolutionäre nicht davon abgehalten. Mao Zedong, ein harter Mann wie Stalin, ist an die Spitze der chinesischen Regierung aufgestiegen, und 1949 traten er und seine Genossen als Sieger des chinesischen Bürgerkriegs hervor. Mao sah den kolossalen Verlust von Menschenleben im sowjetischen Experiment als wesentlichen Bestandteil seines Erfolgs an.

Parteivorsitzender Mao Zedong in Peking, 1952

Sein „Großer Sprung nach vorn“, eine gewaltsame Kampagne von 1958 bis 1962, war ein Versuch, etwa 700 Millionen chinesischer Bauern zu kollektivieren und die Industrie auf dem Land zu verbreiten. „Drei Jahre harte Arbeit und Leid und tausend Jahre Wohlstand“, lautete ein prominenter Slogan dieser Zeit.

Falsche Berichte über triumphale Ernten und fröhliche Bauern überfluteten das gut ausgestattete Lager der kommunistischen herrschenden Elite in Peking. In Wirklichkeit führte Maos Programm zu einer der tödlichsten Hungersnöte der Geschichte, die zwischen 16 und 32 Millionen Opfer forderte. Nach der Katastrophe, die von Überlebenden als „kommunistischer Wind“ bezeichnet wird, blockierte Mao Rufe zum Rückzug aus der Kollektivierung. Er sagte: „Die Bauern wollen ‚Freiheit‘, aber wir wollen Sozialismus.“

Auch das Repertoire der kommunistischen Brutalität im Namen des Sturzes des Kapitalismus erschöpfte sich nicht. Mit ihrer Eroberung Kambodschas 1975 trieben Pol Pot und seine Rote Khmer Millionen aus den Städten aufs Land, um in Kollektiven und Zwangsarbeitsprojekten zu arbeiten. Sie versuchten, Kambodscha als eine klassenlose, rein agrarische Gesellschaft neu zu gestalten.

Die Rote Khmer hat das Geld abgeschafft, kommerziellen Fischfang verboten und verfolgte Buddhisten, Mohammedaner und die ethnischen vietnamesischen und chinesischen Minderheiten des Landes als „Eindringlinge“. Das Regime von Pol Pot hat sich auch die Kinder geschnappt, um ideologischen Infektionen durch „kapitalistische“ Eltern vorzubeugen.

Alles in allem sind vielleicht 2 Millionen Kambodschaner, ein Viertel der Bevölkerung, in den vier albtraumhaften Jahren der Herrschaft Pol Pots ums Leben gekommen. In einigen Regionen konnte man menschliche Schädel in jedem Teich finden.

 

Ein Kambodschaner betete während einer Zeremonie vor einer Karte mit Totenschädeln von Opfern der Roten Khmer im Tuol Sleng Genozidmuseum in Phnom Penh am 10. März, 2002.

Von Russland und China bis Kambodscha, Nordkorea und Kuba teilen sich die kommunistischen Diktatoren gewisse wesentliche Eigenschaften. Alle haben sich mehr oder weniger dem leninistischen Typus angepasst: eine Verschmelzung eines militanten Ideologen mit einem prinzipienlosen Intriganten. Und alle haben eine extreme Willenskraft besessen — die Voraussetzung, um das zu erreichen, was nur unsagbares Blutvergießen bringen kann.

Der Kommunismus war im vergangenen Jahrhundert kaum alleine, wenn es um das große Niedermetzeln ging. Die Unterdrückung durch den Nationalsozialismus und die Kriege der Rassenvernichtung töteten mindestens 40 Millionen Menschen, und während des Kalten Kriegs führte der Antikommunismus zu Akten grotesker Gewalt in Indonesien, Lateinamerika und anderswo.

Aber als sich im Laufe der Jahrzehnte die Schrecken des Kommunismus manifestierten, schockierte er zu Recht die Liberalen und Linken im Westen, die viele der egalitären Ziele der Revolutionäre teilten. Einige lehnten die Sowjetunion als Deformation des Sozialismus ab, indem sie die Verbrechen des Regimes der Rückständigkeit Russlands oder den Eigenheiten Lenins und Stalins zuschrieben. Schließlich hatte Marx nie Massenmord oder Gulag-Arbeitslager befürwortet. Nirgendwo hat er argumentiert, dass die Geheimpolizei, die Deportationen mit Viehwaggons und das Massensterben aufgrund des Hungerstod genutzt werden sollen, um kollektive Bauernhöfe zu etablieren.

Aber wenn wir eine Lektion aus dem kommunistischen Jahrhundert gelernt haben, dann diese: Marxistische Ideale durchsetzen, heißt sie zu verraten. Marx‘ Forderung nach „Abschaffung des Privateigentums“ war ein klarer Aufruf zum Handeln — und ein unerbittlicher Weg zur Schaffung eines unterdrückten, unkontrollierten Staates.

Ein paar Sozialisten begannen zu erkennen, dass es ohne Märkte und Privateigentum keine Freiheit geben könnte. Als sie mit der Existenz des Kapitalismus Frieden schlossen und hofften, ihn zu regulieren, anstatt ihn abzuschaffen, riefen sie anfänglich Anprangerungen als Abtrünnige hervor. Im Lauf der Zeit haben sich immer mehr Sozialisten dem Wohlfahrtsstaat, oder der Marktwirtschaft mit Umverteilung, angeschlossen. Aber der Ruf der Sirene, den Kapitalismus zu überwinden, bleibt unter einigen Linken weiterhin bestehen.

Auch in Russland und China, den großen Überresten des kommunistischen Jahrhunderts, bleibt er am Leben, wenn auch kaum in orthodoxer marxistischer Art und Weise. Beide Länder misstrauen weiterhin dem, was an freien Märkten und Privateigentum vielleicht das Wichtigste ist: Ihre Fähigkeit, den gewöhnlichen Menschen ihre Handlungs- und Gedankenunabhängigkeit zu geben, indem sie ihre eigenen Interessen nach ihrem Gutdünken verfolgen, im Privatleben, in der Zivilgesellschaft und im politischen Bereich.

Aber der Antikapitalismus diente auch als Programm für eine alternative Weltordnung, in der längst unterdrückte nationalistische Ziele verwirklicht werden konnten. Für Stalin und Mao, beides Erben von stolzen alten Zivilisationen, stellten Europa und die USA die Anziehungskraft und Bedrohung eines überlegenen Westens dar. Die Kommunisten stellten sich die Aufgabe, ihre kapitalistischen Rivalen zu überholen und einen zentralen Platz für ihre eigenen Länder auf der internationalen Bühne zu gewinnen. Dieser revolutionäre Kampf ermöglichte es Russland, sein jahrhundertealtes Gespür für eine besondere Mission in der Welt zu befriedigen, während es China den Anspruch einräumte, wieder einmal das Reich der Mitte zu sein.

Vladimir Putins Widerstand gegen den Westen baut mit seiner eigenartigen Mischung aus sowjetischer Nostalgie und Reaktivierung des Russisch-Orthodoxen auf Stalins Präzedenzfall auf. China bleibt natürlich der letzte kommunistische Riese, auch wenn Peking die Marktwirtschaft fördert und diese zu kontrollieren versucht. Unter Xi Jinping nimmt das Land nun sowohl die kommunistische Ideologie als auch die traditionelle chinesische Kultur an, um sein Ansehen als Alternative zum Westen zu stärken.

Das blutige Jahrhundert des Kommunismus ist zu Ende, und wir können dieses Ende nur feiern. Doch beunruhigende Aspekte seinen Vermächtnisses halten an.

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